Schuppen

Die Geschichte begann am letzten Donnerstag. Und sie begann für uns auch eine seltsame Geschichte zu werden, als ich am Strand das Hautstück und die Haare fand. Begonnen hatte die Geschichte schon einige Tage früher. Wir, das heißt meine, mir seit vierzig Jahren an alle Strände der Welt folgende Herzallerliebste und ich waren am Lido de Jesolo. Und das im März, sonnig und kalt und menschenleer der Strand und Venedig leicht mit Auto und Fähre zu erreichen. Jedenfalls, um bei unserer Geschichte zu bleiben, schon am letzten Montag wurde das Motorboot aufgefunden und wie am Dienstag in der Zeitung stand menschenleer, im Meer treibend, etwa drei Meilen vom Strand entfernt. Vorher hätte der Besitzer, so war zu lesen, noch einen Handy-Anruf bei der Polizei gemacht und um Unterstützung gebeten, denn er hätte mitten auf dem Meer jemanden angefahren; eine Frau, die, soweit die tief stehende Sonne im Gegenlicht zu erkennen gab, so sagte er, als dunkelhäutig, fast lila und dunkelhaarig, fast grün zu beschreiben sei. Sie sei nach der Kollision, einen spitzen Schrei ausstoßend versunken. Nun, die Polizei fuhr hinaus, so stand zu lesen, suchte zwei Stunden lang alles ab im Umkreis des Bootes und fand weder die verletzte Frau noch den Bootsfahrer der wohl bei dem Versuch die Verletzte zu bergen selbst ertrunken sei. Seltsamerweise wurde, so stand am Mittwoch zu lesen, bisher keine Vermissten-Anzeige einer jungen Frau abgegeben und auch in den Kliniken war niemand eingeliefert worden, was auch erstaunt haben müsste, da drei Meilen im nur 14 Grad kalten Wassers, in verletztem Zustand zumal, wohl kaum zu schaffen sei. Vier Tage später, an dem besagten Donnerstag also, fand man die Leiche des jungen Mannes nackt am Strand. Wie die Obduktion ergab war er in der Nacht davor ertrunken; aber ansonsten unverletzt. Und obwohl er ja einen schrecklichen, dreitägigen Überlebens- beziehungsweise Todeskampf hinter sich haben musste, zeigte sein Gesicht einen lächelnden, zufriedenen, irgendwie glücklichen Ausdruck; was vielen zu bestätigen schien, dass Ertrinken wohl doch keine so schreckliche Todesart sein müsse. Ein bedauerlicher Unfall also für alle; für alle außer uns. Denn wir fanden, wie gesagt an eben diesem Donnerstag den zirka Fünfmarkstück großen Hautfetzen. Ich schreibe Fünfmarkstück weil beim neuen Eurogeld kein gleichgroßes Geldstück vorhanden ist. Also das bläulich-lilafarbene Hautstück lag am Strand direkt an der Wasserlinie. Wir machen gerne lange Spaziergänge am Meer, und da es tags zuvor stürmisch war lag allerlei Muschel- und Strandzeug im Sand. Blauperlmutterartig schillerten die Schuppen auf etwa der Hälfte des Hautstückes. Die andere Hälfte war schuppenfrei, sah aus als hätte sie nie Schuppen gehabt und sei normale, fast menschlich wirkende Haut. Auch vier grüne Haare, zwei davon fast einen Meter lang, fanden wir in der Nähe. Aus einem seltsamen Impuls heraus stecken wir alles in den Plastikbeutel zu den anderen am Strand gesammelten Korkstücken und Muscheln und im Hotel gleich in den Kühlschrank. Als wir zwei Tage später zurück fuhren kam alles wohl verpackt in die Kühltruhe im Auto. Zuhause angekommen erzählten wir natürlich allen Freunden von unseren Italien-Abenteuern und eine Freundin von uns zeigte starkes Interesse an dem Hautstück. Sie arbeitet am kriminaltechnischen Institut und wollte interessehalber das Hautstück und die Haare einer Genanalyse unterziehen. Gestern nun rief sie an und teilte uns das seltsame Ergebnis mit: Haut und Haare seien eindeutig menschlichen Ursprungs, ja, auch die Schuppen die wohl von einer krankhaften Hautveränderung stammen müssten. Die Farbe der Haut und der Haare hätte sich wohl durch Seewasser-Zusätze verfärbt. Natürlich erzählten wir ihr von dem, dann wohl doch verletzten Mädchen und dem ertrunkenen Motorbootfahrer. Aber noch etwas anderes hatte sie gefunden, etwas seltsames. Alle Gene seien menschlich; aber am Beginn des Genoms dort wo das „Lesezeichen“ die gültigen Genabschnitte von den ungültigen, den historischen trennt, gab es einen kleinen Unterschied. Wie wir sicher wüssten, wir wussten es bis dahin natürlich nicht, gäbe es im menschlichen Genom auch fast alle anderen Genome der früheren, tierischen Vorfahren, der Saurier zum Beispiel, der Reptilien und auch der Fische, und bei dieser Genprobe seien einige wenige Genwindungen noch innerhalb des Lesezeichens, also gültig, die normalerweise nicht mit zur Bildung des menschlichen Organismus gehören. Das sei auch wohl der Grund für die krankhafte Schuppenbildung an manchen Stellen der Haut. Selbst größere Mutationen in den Fischbereich seien mit diesen Genen denkbar. Übrigens hatte sie das Hautstück noch einem Kollegen der kriminaltechnischen Autopsie gezeigt, der den Hautfetzen eindeutig in den Bereich des Überganges vom Po zum rechten Bein einordnete, sodass die Verunglückte wohl vom Po abwärts ganz oder teilweise mit Schuppen bedeckt gewesen sein musste. Die Altersbestimmung war nicht möglich denn die ermittelten Werte ergaben, trotz dreimaliger Kontrollmessung, ein Alter von 240 Jahren was ja wohl nur ein Programmierfehler sein konnte. Und ja, weiblich sei sie eindeutig gewesen, das stünde sicher fest. Das Hautstück liegt seither in Spiritus im Regal der seltsamen Fälle im kriminaltechnischen Institut als Nachbar eines linken Ohres, einer noch sehr kleinen großen Zehe, einem männlichen Glied, einer halben Nasenspitze und einer dreibeinigen Maus. Auf dem Schildchen am Glase steht: Die „Nixe“ von Venedig 28. 3. 2002.

Italien 8.3. bis 31.3.2002