Unentdeckt

Und wieder griff die Windbö nach ihm. Kaum dass er sich auf seinem felsigen Standort behaupten konnte. Sie pfiff und gurgelte durch die Felsspalten, rupfte und bog die Thymian- und Ginsterbüsche, zauste in den rosa und weißen Oleandern. Dann war wieder fast alles still bis zum nächsten Windstoß. Weit unten am Hotel sah er die Palmen mit den langen Wedeln um sich schlagen als wollten sie sich wehren gegen die wilden Winde, um sich dann doch vor der Gewalt zu verbeugen. Hier oben, weit über dem blauen, aufgewühlten Meer hatte er einen grandiosen Blick auf die Bucht von Plakias. Braun, ockergelb, grün getüpfelt mit akkurat angebauten Olivenhainen waren die Hügel und Berge ringsum und dahinter hoch, sehr hoch die Gipfel der „Weißen Berge“ von Kreta zu sehen. Felsig und wie im Hochgebirge ist hier die Landschaft mit wilden, wasserreichen und busch- und baumgefüllten Schluchten. Dort war der Wind zu Hause, beutelte den Wanderer und zauste durch die, hoch im Berg liegenden, weißen Dörfchen mit den vielen, blauweißen und rot bedachten Kuppeln der Kirchen. Er schaute hinüber nach Sellia und Mythias oben in den Bergen und dann wieder zurück zum Meer, zur Bucht von Plakias hinüber und zur Bucht von Domnani. Er suchte etwas, etwas das sich lohnte als Aquarell eingefangen und festgehalten zu werden. Dafür war er doch vom Strand hier hoch gekraxelt, hatte Malkasten, Farben, Block und Wasser heraufgeschleppt auf diese Felswand. Das Geröll und die Felsbrocken sind rau und spitz. Nur mit Badeschlappen kann man keine Bergwanderung machen. Er tastete sich durch das Gelände, stützte sich an den Felsbrocken ab, wich den kratzigen Büschen aus und hatte endlich eine einigermaßen bequeme und etwas windgeschützte Stelle gefunden um halb sitzend, halb stehend, den Block auf den Knien und den Farbkasten am Felsenbord abgestellt malen zu können. Prächtig war die Bucht, die umliegenden Felsen und die weißen Häuschen in den Olivengärten. Kaum hatte er seinen Farbkasten aufgeklappt, hatte Wasser in die Schälchen gegossen und den ersten Farbton gemischt, klappte ihn die nächste Bö wieder zu. Also musste er erst passende Steinchen suchen und den Farbkasten windfest beschweren. Aber jetzt frisch ans Werk! Blick aufs kretische Meer, – die zweite! Aber heute war nicht sein Tag! Kein Bild würde entstehen. Der Wind wollte seine blaue Mütze. Mit spitzen, eiligen Fingern griff er danach, war schneller als des Malers Hand und trug sie fort. Einige Meter nur. Unser Hobbymaler packte geduldig den Block in eine Felsspalte und spielte „Fang den Hut“ mit dem Wind. Mit seinen Badeschlappen kletterte er zur Mütze, die jedoch inzwischen schon mehrmals einen weiteren Salto gemacht hatte.
Richtig spitz und völlig unwegsam waren hier die Felsnadeln. Aber er wollte seine Mütze wieder haben und kletterte weiter ins fast Unzugängliche. Und seine Ausdauer wurde belohnt, nicht nur mit seiner Mütze. Gerade als er das gute Stück endlich zu fassen bekam, sah er aus einem Felsspalt etwas blitzen. Weit unter ihm, schräg in den Fels hinein sah er eine tiefe Spalte entlang, eng, dunkel und bewachsen mit einigem Gesträuch und ganz unten schimmerte das Meer. Kleine Wellen reflektierten das Sonnenlicht. Dort hätte er nie eine Bucht vermutet, so direkt unter ihm, schräg nach hinten rückwärts, mitten im Fels. Vorsichtig klettert er weiter, schabt sich in seine schöne Urlaubsbräune manchen Kratzer an Arm und Bein und endlich sieht er etwas besser in den Abgrund. Türkisblaues Wasser vor gigantisch hohen, steilen Felsen, vielleicht 25 bis 30 Meter unter ihm. Und irgendetwas Stangenmäßiges, Mastähnliches ragt da auch von der Seite. Und Bretter sah er, bzw. eigentlich nur Reste davon. Alles ganz alt und vergammelt, schien es. Kein Weg gab es nach unten nur noch höher in den Fels hinein. Vorsichtig weiter hoch kletternd sah er die Spalte sich weiten und hatte bald einen einzigartigen Überblick über eine vollkommen vom Fels umschlossene Bucht. Eine Art natürlichen Hafen. Aber wo war die Zufahrt? Denn eine solche musste es gegeben haben. Überall lagen, ragten Schiffsteile, Wrackteile herum. Es mussten einst vier oder fünf oder auch sechs Schiffe gewesen sein deren Trümmer als ein Gewirr von Masten, Rahen und Segeln zu erkennen waren. Deutlich sah er auf einem Bug eine alte, vollkommen verrottete Kanone. Alle Decksaufbauten, kaum noch braun-hölzern zu erkennen waren grau wie der Fels ringsum und geborsten. Schwarzrötlich das Muster der Eisenbeschläge und Nieten und überall ein endloses Gewirr von Tauen, Seilen, Rollen, Rahen, Eimerresten und Fassteilen. Ein Schiffsrumpf lag auf der Seite. Fast unleserlich der Name „Santa Maria del…“, durchschnitten von den Resten der Ankerkette. Es waren uralte Schiffswracks. Wahrscheinlich von den Venezianern die vor rund 800 Jahren Kreta eroberten und vor 400 Jahren von den Türken wieder vertrieben wurden. Wie waren die Schiffe aber hier herein gekommen? Irgendwo musste es eine versteckte Zufahrt geben. Und wieso waren sie überhaupt noch da? Längst hätten sie die Attraktion in einem Museum sein müssen. Warum holte sie bisher niemand? Es wurde allmählich Abend und die Sonne verschwand hinter den fernen weißen Bergen. An Aquarelle war sowieso nicht mehr zu denken. Bevor es dunkelte musste er zurück geklettert sein. Er wollte natürlich wieder kommen und dem Rätsel auf den Grund gehen. Um die Stelle wieder zu finden errichtete er eine kleine Steinpyramide und befestigte seine schöne, blaue Mütze an deren Spitze mit einem großen, spitzen Felsstein. Beim Abstieg versuchte er sich jeden Schritt und jeden Felsvorsprung zu merken. Er nahm seinen Block und Farbkasten auf, sah noch einmal zurück zu der Stelle. Deutlich war seine Mütze als Wegzeichen erkennbar. Immer noch tobte der Wind und manche kräftige Bö brachte ihn zum Straucheln. Es wurde schon ziemlich dämmrig und er war froh als er endlich wieder unten in der Bucht war wo sein Mietwagen stand und sein sorgsam mit Kies und Steinen beschwertes Badetuch noch immer am Strand lag. Obwohl der Wind warm war fröstelte ihn und er war froh im schützenden Wagen ins Hotel zurück fahren zu können.
Am nächsten Tag fuhr er natürlich wieder in diese Bucht um sein Geheimnis zu erkunden. Gleich zur Begrüßung sah er seine Mütze. Sie lag mitten auf dem Strand als wartete sie auf ihn. Der Felsstein war also nicht schwer genug gewesen und die wilden Böen hatten ihm seine Mütze hinterher geschickt. Macht nichts, dachte er, ich habe mir ja den Weg gemerkt. In guter Voraussichtlich hatte er sich diesmal besseres Schuhwerk mitgenommen. Schritt für Schritt erstieg er den Felsen, genau wie gestern, erkannte manche der Merkstellen wieder und fand sogar nach einigem Suchen die Stelle an der der Wind seinen Farbkasten umklappte, rotgelbe Spritzer auf dem grauen Fels. Und dort hinüber war doch die Mütze geflogen, oder dort? Wo war eigentlich seine Steinpyramide ?
Drei Stunden bis zum Mittag suchte er alles ab. Nirgends eine Pyramide und auch kein Durchblick zum geheimen Hafen, keine Schiffe, nur Stein, Fels, Thymian, Oleander, gelbe Disteln, lila Minze und Ginster, Gras, Kies, Geröll. Unbarmherzig brannte die Sonne und obwohl er seine Mütze ja wieder hatte, wurde ihm warm und wärmer. Also stieg er wieder ab, hinunter in die Bucht und gleich ins kühlende Meer. Das Wasser ist angenehm, nicht kalt und nicht warm. Er könnte doch um das Felsenriff herumschwimmen und so vielleicht irgendwo den Eingang zu seinem Hafen finden. Aber so ein Riff ist groß und hat viele kleine Felsbuchten und sogar zwei kleine Höhlen. Das überstieg bald seine schwimmerische Ausdauer. Aber mit einem Boot… da müsste man doch den Eingang finden. Keiner will ihm, dem Touristen, ein Boot leihen. Er versichert, dass er bootfahren könne, habe sogar einen gültigen deutschen Bootsführerschein. Das sei hier nicht üblich, meint die Reiseleiterin im Hotel, aber gegen ein bescheidenes Honorar wäre wohl jeder Fischer bereit ihn gerne rund um die Insel fahren. Das wollte er natürlich nicht, aus nahe liegendem Grund, denn dann wäre sein Geheimnis eben keines mehr, und der Fischer der Herr der Entdeckung. Am Tage darauf kaufte er ein kleines, gelbes Badeboot, blies es auf und paddelte die Küste entlang. Glücklicherweise hatten die Böen etwas nachgelassen. Den ganzen Tag suchte er vergebens nach einer Zufahrt aber in keiner der vielen Buchten gab es einen Durchlass zu seinem Hafen. Wie waren die Schiffe aber dann dort hinein gekommen?
Auf dem Rückweg mit seinem Schlauchboot fällt ihm im Verlauf der Küste etwas Eigentümliches auf. Rund um alle Buchten und Felsenriffe ist so etwa 2 Meter über dem Wasserspiegel eine Hohlkehle, eine umlaufende breite Kerbe ringsum in alle Felsen eingespült. Vielleicht war der Wasserspiegel früher einmal höher oder Eisplatten der letzten Eiszeit hatten die umlaufende Kerbe eingeritzt. Vielleicht hatte sich auch das Land gehoben. Was ihm aber weniger wahrscheinlich schien denn die Kerbe verlief völlig parallel zum Wasserspiegel, hatte also zu diesem immer etwa den gleichen Abstand. Was ihn aber besonders stutzig machte war, dass nur an einer Stelle für einige Dutzend Meter keine Kerbe im Fels war! Links und rechts davon war sie deutlich zu sehen aber hier an diesem großen Brocken fehlte sie. Dieser Felsbrocken lag also noch nicht an dieser Stelle als die Kerben ringsum entstanden. Ein Blick nach oben, zu den hohen Bergen bestätigt ihm seine Vermutung. Wie Zähne stehen eine Reihe riesiger Felsnadeln hoch oben am Berg. Aber einer der Zähne fehlt. Deutlich ist die Lücke erkennbar. Sollte dieser Brocken von dort bis hier zur Küste gerollt sein? Hatte er den geheimen Hafen für immer verschlossen? Es musste ein fürchterliches, plötzliches Unglück gewesen sein. Warum hatte man die Schiffe nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht? Was war mit den Seeleuten geschehen? Konnten sie sich retten? Und wie?
Niemand wusste etwas von einem Felssturz. Wenn, dann war das lange her, ein Erdbeben vielleicht oder eine besonders starke Bö?
Seine Urlaubstage gingen zu Ende und was sollte er wohl noch unternehmen? Keiner würde ihm glauben, und wenn doch würden andere die Entdeckung beanspruchen. In einem kleinen Laden in Plakias sah er eine ganze Menge venezianischer Antiquitäten, billig für die Touristen nachgemacht, Griffe, Glöckchen, Riegel, Klopfer, Armreifen, Ringe und dabei auch Weingläser. Die schienen ihm sehr alt zu sein. „Ja, ja, alles echt venezianisch!“ sagte der Verkäufer. „Die Gläser auch?“ „Ja, auch die“. Für 10 Euro ein echtes Glas? Also wohl auch ein Imitat. Unterschiedlich dick ist das blaugrüne Glas, als hätte es lange, sehr lange auf einer Seite gelegen. Er kaufte es als Souvenir und dachte, bestimmt ist es von meinen Schiffen und irgendjemand kennt doch den Zugang und verkauft die alten Stücke. Aber dann müsste es doch viel teurer sein?
Im Hafen stehen malerisch die Fischerboote. An einem ist ein seltsames Bugspriet. Nicht wie bei den anderen aus rohen Stämmen gehauen sondern fein gehobelt, vierkantig, kanüliert und am Ende keine Spitze sondern ein Löwenkopf. Stark verwittert, aber unter der blauen Farbe gerade noch erkennbar. Vorsichtig schabt er an der Farbe herum, ein Stück blättert ab und er sieht den Ansatz der Flügel des Markuslöwen, eindeutig venezianisch! Irgendwo gefunden vor langer Zeit! Er denkt, lassen wir die Schiffe in ihrem Versteck weiter schlummern. In 100 oder 200 Jahren vielleicht, freut sich bestimmt auch noch jemand über den Fund, wenn dann überhaupt noch etwas davon da ist.
Schade, die schönen, stolzen Schiffe, die einst die Königinnen der Meere waren.

Kreta
Juni 2008
Roland Schemel

Kreta
Juni 2008
Roland Schemel