Clärchens Ballhaus

„Besa me, besa me mucho“, singt die dünne Sängerin. Spanisch wird schon mal gesungen hier, meistens aber deutsch, und amerikanisch nie. Langsam dreht sich die Spiegelkugel an der Decke. Eine Reihe bunter Lampions spannt von einer Wand zur anderen, Gartenfest-Reminiszenzen. Silbrig gestreift sind die Wände, rosa und blaue Leuchtröhren flimmern bewegte Muster auf die Tanzfläche. Zwei alkoholfreie Cocktails haben wir lange wartend erhalten und schon fast getrunken. Seit der „Wende“ also seit 15 Jahren kommen wir nach Berlin, zwei- bis dreimal jährlich. In „Clärchens Ballhaus“ sind wir heute zum ersten Mal. Die Musik beginnt wieder. Fünf Mann und die dünne Sängerin. „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt…“ Viel rhythmischer und vor allem viel lauter klingt das als vor sechzig Jahren. Damals, gleich hier ums Eck, brannte die Synagoge, wurden jüdische Nachbarn abgeholt. Und vorn in dieser Straße, in der Nähe des „Tacheles“ das damals ein großes jüdisches Kaufhaus war und heute der Tourismuspunkt für das alternative Berlin ist, ja dort war die größte jüdische Schule Berlins, heute noch immer eine Ruine. Dafür erstrahlt die Kuppel der Synagoge wieder in goldenem Glanz, wird aber noch immer, oder muss schon wieder, polizeilich bewacht werden. – Draußen im „Garten“ haben wir vorhin zu Abend gegessen, Pizza. Auf der handgeschriebenen Speisekarte steht auch Kürbiscremsuppe mit Rucolapesto oder Mascarpone mousse mit glasierten Feigen. Wir sitzen ganz vorn. Ein Betrunkener pöbelt von der Strasse her rechtsradikale Parolen übers Publikum. Niemand reagiert. Ist doch nur ein Betrunkener und alle sind geschützt durch die Gartenmauer. Diese ist übrigens der Rest der Fassade des früheren Vorderhauses. „Clärchens Ballhaus“ ist hier im Hinterhaus, das damals, von der Strasse nicht sichtbar, nur durch einen dunklen Durchgang zu erreichen war. Die weiß verputzten Brandmauern des Vorderhauses sind links und rechts an den erhaltenen Nachbargebäuden noch gut zu erkennen. Die Stockwerke, die Böden, die Zimmerwände wie aufgemalt und einige abgerissene Rohre zeigen, dass dort im dritten Stock eine Badewanne stand und in allen Stockwerken genau übereinander Heizkörper waren. Platanen stehen jetzt wo der Salon im Erdgeschoß war. Dick sind sie als seien sie immer schon dort gestanden. Sechzig Jahre sind eine lange Zeit. Was mag wohl aus dem Kellergeschoß geworden sein? Ist es eingestürzt? Was wurde aus den Hausbewohnern, die dort wie üblich vor den Bomben Zuflucht suchten? Im rechten Nachbarhaus war vorhin eine Vernissage als wir hier ankamen. Dort gibt es noch solch einen dunklen Durchgang mit einem mauerdicken, schweren, geschnitzten Holztor davor. Viele Galerien gibt es hier in der Auguststrasse. Immer wieder werden neue eröffnet und viele davon nach kurzer Zeit wieder geschlossen.
„Leicht kommt man an das Bildermalen,
doch schwer an Leute die`s bezahlen“ meint dazu Wilhelm Busch. Morgen fahren wir nach Schorndorf zurück, wollen aber beim nächsten Mal wieder hier ins „Clärchen“ kommen.
Nach unserer Pizza fanden wir hier im Ballsaal einen kleinen, aber freien Tisch gleich neben dem DDR-üblichen , gelbbraunen Kachelofen, der jetzt kalt ist. So einer steht, wie ich später feststelle auch in der Herrentoilette.
Der letzte warme Sommertag sei heute, sagen sie im Radio. Nur wenige Paare tanzen bis jetzt. Wir tanzen auch, irgendwie auf Songs vor 50 Jahren. Wie beim Betriebsausflug als Lehrling kommt’s mir vor nur lauter. Die Technik ist stärker geworden. Zwei Apfelschorle müssen es jetzt noch sein und noch zwei Euro in die Parkmaschine werfen bis Mitternacht. Viele Frauen, ältere und fast ältere sind da. Die beiden am Nebentisch werden abwechselnd von einem Griechen oder so aufgefordert, freuen sich sichtlich darüber und lästern sofort miteinander über ihn, kaum dass er weg ist. Kerzen brennen. Inzwischen ist der Saal rappelvoll und die Tanzfläche auch. Die Band packt schon wieder ein und der Discjockey legt nochmals die alten Schlager auf. Unsere Musik von „drüben“. Vielleicht hat man hier noch Nachholbedarf daran? Die Nacht ist mild. Auf der Rückfahrt nach Erkner war keine Polizeikontrolle. Da hätte man also wirklich noch eine Molle mehr trinken können. Aber man weiß ja nie.

Berlin 16. September 2006