Schon einige Male waren wir hier an der Römerquelle Wir nennen sie einfach Römerquelle obwohl sie viel älter ist als die Römer und natürlich schon die Alten Griechen…Loutra Kyllinis steht dran. Eine Tafel vor einem uralten, riesigen Baum. Was das wohl für ein Baum ist? Wir sind hier auf dem West-Peloponnes, Olympia-Riviera-Thalosso heißt unser Hotel. Wir haben uns, wie schon so oft, einen Motorroller gemietet, fahren damit in der Gegend herum und sind wieder einmal am Römerbad gelandet, Manchmal schmieren wir uns komplett mit dem tiefschwarzen, schweflig-faulig riechenden Schlamm ein. Heute habe ich mir aber nur die Hände damit eingerieben. Gegen so manche Leiden und Krankheiten sei dieser Schlamm nützlich hat man uns erklärt. Also kann’s nicht schaden damit meinen beginnenden Gelenkrheumatismus zu behandeln.
Nun ja, mit meinen schwarzschlammigen Händen laufe ich in der Gegend herum. Sie müssen ja erst an der Sonne trocknen bevor man sie mit der Thermal-Schwefelquelle wieder abspülen kann. Auch das gehört natürlich mit zur Therapie. Wir, Kornelia macht natürlich wie immer auch mit, also wir gehen schlammtrocknend im Wald umher, sehen ganz plötzlich zwischen den Bäumen ein Gemäuer auftauchen. Beim Näherkommen erkennen wir dass es sich um ein altrömisches Theater handelt. Ganz so altrömisch ist es nicht mehr, erkennen wir bald. In jeder Epoche haben wohl kunstliebende Theaterfreunde versucht den allmählichen Verfall auf zeitgemäße Weise zu stoppen. So finden wir also Reparaturversuche mit mittelalterlichen Steinquadern, mit römischen Bruchziegeln und ganz obenauf mit Beton. Alles ist jedoch bereits wieder mit blühendem und grünen Busch- und Pflanzenwerk überwuchert. Die Akustik ist nach wie vor exzellent. Jedes, auch nur leise gesprochene Wort ist auch auf den obersten Rängen noch sehr deutlich zu hören. Ich arbeite mich mit meinen Schlammhänden in die Mitte der Bühne durch, nehme eine passende Hamlethaltung ein und sage: „Schwein oder nicht Schwein, das ist hier die Frage“, Ko oben auf dem letzten Rang lacht, hat es also verstanden, da höre ich deutlich dicht neben mir ein lang gezogenes Seufzen. Ein dunkler, einige lange Sekunden anhaltender, uralter Stoßseufzer. Natürlich erschrecke ich über diese doch unerwartete Reaktion auf meinen Bühnenauftritt, wende mich um und sehe gerade noch wie einige trockene Blätter kaum zwei Meter weit hinter mir in die Höhe fliegen und Gräser und Blumen an dieser Stelle zittern und schwanken. Ich arbeite mich zur Stelle vor und finde ein etwa kopfgrosses Loch im Felsboden und rieche den letzten Rest des aufsteigenden Windhauches. Es riecht faulig-schweflig wie der Schlamm an meinen Händen. Klar das ist bestimmt der Zugang zu einer Höhle oder so, die mit dem heilsamen Faulschlamm verbunden, vielleicht ein riesiges Reservoir davon enthält. Tastenderweise strecke ich meine Hand in das Loch. Nichts ist zu fühlen, bodenlos. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass die Luft, der Wind nach innen gezogen wird, einige lange Sekunden an meiner Hand vorbei nach innen. Die Höhle atmet. Vielleicht ist sie mit dem Meer verbunden das hier ja nur einige hundert Meter entfernt ist und der Wellenschlag oder so… Wie ich noch so überlege vernehme ich seitlich neben mir ein Geräusch, ein leises und doch mächtiges Rutsch- oder Schabegeräusch und einige Blumen, Gräser und kleinere Büsche heben sich nach oben. Es sieht aus als würde sich ein etwa zwei Meter großer Teil des Hügels aufklappen. Ein Spalt entsteht, denke ich noch, da sehe ich das Seltsamste, Unerwartetste und jeglicher Logik Widersprechendste, ein riesiges Auge. Der Felsspalt ist das nach oben geklappte Augenlid und der Fels wohl so etwas wie eine Haut oder ein Schildkrötpanzer. Unsäglich alt, weise und erstaunt sieht mich das Auge an, lange, sehr lange, bestimmt einige Minuten. Ich wage kaum zu atmen, schaue einfach nur in dieses riesige braune Auge und kann es nicht glauben was da geschieht. Die Gräser und kleinen Büsche stehen quer auf dem aufgeklappten Augenhügel. Sie sehen sehr deplaziert aus und ich versuche mir ihre Stellung einzuprägen als Beweis dafür, dass ich das Ganze nicht nur träume.
Noch immer dauert der Augenblick an. Der Ausdruck wechselt aber von Erstaunen in grenzenlose Traurigkeit und langsam beginnt sich das Lid wieder zu schließen, die Büsche und Blumen schwenken wieder nach oben in ihre angestammte Lage, der Felsspalt schließt sich, das Auge ist verschwunden. Was ist das für ein Wesen und warum war es so traurig? Ko war noch immer oben auf dem Theater, schaute in die herrliche Landschaft und rief gerade: „Da drüben kann man bis Kastro sehen“. Kastro ist die Ruine der großen Frankenburg Clermont, heute Chlemoutsi. Dazwischen liegen wunderschöne üppige Wälder und Auen und Olivenhaine. Als ich ihr die Geschichte zurufe kommt sie sofort herunter, arbeitet sich zu mir durchs dichte Unterholz: Wo, wo? fragt sie. Tiere sind doch auch ihr Hobby und wir haben zuhause neben anderem Getier auch drei Schildkröten. Aber wir können die Stelle nicht mehr finden. Das heißt finden können wir sie schon aber nicht mehr öffnen, sehen keinen Spalt und wenn einer da sein hätte können, ließ er sich jedenfalls mit unseren bescheidenen Kräften nicht öffnen. Auch der Windkanal, der ja wohl ein Nasenloch gewesen sein musste war unauffindbar und verschwunden. Wenn das ein Nasenloch war dann müsste doch auch irgendwo das zweite sein, und auch das zweite Auge sollte sich doch finden lassen, zumindest jedoch der dazugehörige kleine Hügel. Was sieht hier herum irgendwie nach einer Kopfform aus? Wir laufen alle Hügel ringsum ab und versuchten uns eine Vorstellung von der Gestalt und der Größe des Hügelkammes zu machen um so vielleicht auf die Gestalt und die Art des Wesens schließen zu können.
Alles vergebens. Das Geheimnis blieb unergründbar.
Erst auf der Heimfahrt mit unserem Roller, die Hände hatte ich inzwischen wieder sauber gewaschen, erst da begriff ich warum das Tier mich so traurig ansah. Meine Schlammhände, so nahe, hatten es an etwas erinnert, an etwas lang Enthehrtes, fast schon Vergessenes. So rochen wahrscheinlich seine Artgenossen. Seinesgleichen! Und wegen diesem verlockenden Geruch hatte es seinen vielleicht jahrhundertelangen Schlaf unterbrochen um dann doch wieder enttäuscht feststellen zu müssen, dass es ganz allein auf der Welt war, das Letzte seiner Art.
Kyllini 29. Mai 2005