Die drei Tassen

Ein Geburtstagsmärchen für Luzia Trost
von Roland Schemel, Oktober 2004

Mein Großvater, also Dein Ur-ur-Großvater war Musiker in der schönen Stadt Klagenfurt in Österreich. Er hieß Jean Schemel, was mich als Kind immer zum lachen brachte, denn wer heißt schon Jean? – Also dieser Ur-ur-Großvater hatte schon die 3 Tassen von denen ich Dir erzählen will. Zwei davon waren eigentlich nichts Besonderes, nur die dritte, – wie wir noch hören werden.
Meine Großmutter erzählte uns, schon immer wären diese Tassen nur an hohen Feiertagen, wie Weihnachten oder Geburtstag benutzt worden, denn sie waren alt, sehr alt und bestimmt auch sehr wertvoll. Ich erinnere mich noch genau: an Geburtstagen tranken wir immer Kakao aus diesen Tassen und später in der Kriegszeit Magermilch-Kaffee. Aber es war immer etwas Besonderes, daraus trinken zu dürfen. Bunt, rosa und lila waren zwei davon, mit Goldrand verschnörkeltem, weißem Porzellan-Henkel. Und diese beiden waren, besonders am Rand, schon ziemlich abgestoßen und eine hatte sogar einen kleinen Sprung. Die dritte war grau, oder eigentlich grün, so genau konnte man das nicht sagen und war noch fast unversehrt. Keine Macken, Risse oder Sprünge waren zu sehen bis auf den zweiten Henkel. Ja, das war das Besondere, sie hatte wohl früher einmal einen zweiten Henkel, denn genau gegenüber dem ersten Henkel sah man zwei Stellen die etwas heller waren, etwas gewölbt hervorquollen und sich irgendwie uneben anfühlten, so als sei dort einmal ein zweiter Henkel gewesen.
Aber wie dem auch sei, bei meinem Kindergeburtstag wählte ich immer gerade diese Tasse für mich weil darin alles irgendwie besonders gut schmeckte und der Kakao viel länger warm blieb als in den anderen. Ich erinnere mich noch heute mit Schrecken: es war an meinem 5. oder 6. Geburtstag, als die Tasse vom Tisch fiel. Der Magermilch-Kaffee floss mir über die Schuhe, noch ganz heiß, aber mein Schrei galt nicht meinem verbrühten Fuß sondern meiner geliebten Tasse. Glücklicherweise hatte ihr der Sturz keinen Schaden angetan. Sie war unversehrt wie immer. Es war also nichts passiert, außer dem Geschimpfe meiner Mutter.
Einige Jahre später, es war vielleicht an meinem 8. oder 9. Geburtstag hatte ich meine Tasse schon leer getrunken –
es hatte endlich wieder Kakao gegeben – stecke ich den Henkel meiner Tasse in den Mund und fange an zu singen und meine Mutter sagt: „Steck doch die Tasse nicht so in den Mund!“ und ich, ohne auf ihre Anweisung zu achten sage: „WARUM?“ Alle zucken zusammen, ganz laut, tief und volltönend durchs ganze Haus ist mein WARUM zu hören und selbst noch bei den Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Trotz dem allgemeinen Geschimpfe, versuchte ich sogleich nochmals so einen lauten Ton…. nichts geschah, und auch die Versuche der anderen Kinder und einiger Erwachsener konnte die Tasse nicht zum Klingen bringen. Seltsam! Was da wohl passiert war?
Nach dem Geburtstag wurden die Tassen weggepackt und wieder ganz oben in den Schrank gestellt. Das Rätsel aber blieb und wiederholte sich nicht obwohl ich natürlich an jedem Feiertag versuchte wieder diesen Ton hervor zu bringen.
Irgendwann, ich muss so etwa 12 Jahre alt gewesen sein, schenkte mir meine Mutter eine Lupe, also ein Vergrößerungsglas wie wir damals sagten. Damit untersuchte ich alles was mir in die Finger kam und irgendwann natürlich auch meine Lieblingstasse. An den Bruchstellen, wo irgendwann mal der zweite Henkel gewesen sein sollte, sah es unter der Lupe überhaupt nicht nach Bruchstelle aus. Beim genauen Hinsehen konnte ich feine Schriftzeichen erkennen, aber leider nicht entziffern, denn die Schrift war mir völlig unbekannt. „Schriftzeichen! Du spinnst wohl!“ sagte mein Bruder zu meiner Entdeckung und auch meine Mutter hatte für so einen „Quatsch“ überhaupt kein Verständnis. Heimlich machte ich natürlich eine ganze Reihe von Versuchen, steckte dabei auch den Henkel wieder in den Mund und klopfte und drückte an allen möglichen Stellen der Tasse, sagte „Warum“ und „Quatsch“ und „Hallo“ und plötzlich war es wieder GANZ LAUT, tönte durchs Haus wie damals. Jetzt wusste ich wie’s geht: Henkel in den Mund und den oberen Knopf, also die obere „Bruchstelle“ drücken und dann irgendwas rufen. „HALLO, HUHU, HAHA, WARUM, WOHER“ schallte es durchs Haus und es war nur gut, dass meine Mutter gerade einkaufen war, sonst hätte ich gewiss Ärger bekommen. Natürlich probierte ich auch den unteren „Knopf“ aber nichts geschah. Den ganzen Tag ging ich der Familie auf die Nerven mit dem Tassen-Gegröle irgendwo im Haus bis es Abend wurde und, da mein Forscherdrang noch immer nicht ermüdet war, merkte ich bald was es mit dem zweiten Knopf auf sich hatte. Steckte man einen Finger durch den Henkel und drückte mit einem anderen auf den unteren Knopf so entströmte der Tasse heller, gelbgrüner Schein, verstärkte das schwache Licht der Deckenlampe wie ein richtiger, kleiner Scheinwerfer, wenn auch nicht so hell, aber doch deutlich sichtbar. Eine wirklich wunderbare Tasse. Da ich damit natürlich weiterhin allen in der Familie und auch den Nachbarn auf die Nerven ging, packte meine Mutter schließlich die Tasse weg und versteckte sie einfach. Das heißt eigentlich nicht einfach, denn trotz eifrigen Suchens fand ich sie nicht mehr, – bis wir die Wohnung meiner Mutter auflösten. Jahre und Jahrzehnte waren ins Land gegangen. Ich war erwachsen geworden, hatte längst Deine Großmutter Kornelia zur Frau genommen und Dein Vater Thitz und Deine Tante Franziska waren unsere Kinder. Meine Mutter war schon ganz alt und wollte nicht mehr in ihrer Wohnung in Frankfurt bleiben und so kam sie hierher nach Stuttgart. Also räumten wir ihre Wohnung in Frankfurt aus, und da fanden wir wieder die 3 Tassen, noch genau so wie sie sie damals dort versteckt hatte. Und meine Tasse funktionierte noch immer. — Und stets wenn Freunde zu Besuch waren, führten wir, zum Erstaunen aller, die seltsamen Tassenwunder vor. „Eine Zwergentasse“ meinte einer, oder „Etwas Außerirdisches aus dem Weltraum“, ein anderer. Auch das seltsame, harte, graugrüne Material erstaunte alle, und dass sie noch immer keine Schrammen hatte und einige machten sich sogar die Mühe die feinen Schriftzeichen mit der Pupe zu betrachten. Keiner wusste natürlich was genaues und keiner konnte die Schrift lesen, – und mit der Zeit gab es natürlich genug andere, wichtige Dinge zu besprechen und zu erledigen und die Tasse geriet so fast in Vergessenheit. Die 3 Tassen standen jetzt ganz oben in unserem Wohnzimmerschrank und anfangs trank ich manchmal noch daraus, besonders wenn’s Kakao gab. Das erinnerte mich dann an meine Kindheit, damals. – Nach dem Umzug hierher in die Mühle fanden wir die drei Tassen leider nicht mehr wieder.
Auch einiges andere haben wir nicht mehr wieder gefunden, wie das halt so ist bei einem Umzug; aber um die Tassen ist es wirklich sehr schade, besonders um die Eine. Bestimmt steht noch irgendwo ein Papp-Kasten oder Koffer vom Umzug rum, den man beim Auspacken übersehen hat, in unserer riesigen Scheune vielleicht. Und irgendwann wird irgendwer, da bin ich sicher, wieder die Tasse finden und nicht wissen, dass sie etwas Besonderes ist und etwas besonderes kann. Und vielleicht durch Zufall, wird er dann doch irgendwann ihr Geheimnis entdecken. Und vielleicht entdeckt er dann noch weitere, seltsame Fähigkeiten der Tasse, zum Beispiel was geschieht wenn man auf BEIDE Knöpfe gleichzeitig drückt, denn das habe ich, wenn ich mich recht erinnere, nie ausprobiert.