Der Taubenkönig

Plötzlich saß er da. Direkt vor mir auf der grün gestrichenen Mauer unserer Terrasse, hier oben weit über dem Atlantik an der Costa Adeje in Teneriffa. Er beäugt mich und die Büsche ringsum deren Blätter so aussehen als wären sie aus grünem, mit weißen Spitzen versehenen Krepppapier nur für uns hindekoriert. Grau ist er, mit edel geformtem Kopf und einer Gestalt wie sie die Jugendstilmaler ihren Tauben geben. Es war mir sofort klar, dass diese Taube nicht Paula hieß, auch nicht Paul, sondern irgendeinen adligen Namen hatte. Nobilitas sieht man sofort. Grau ist er; aber mit den vielen Farben des Grau, mit mehr als bei den Wolken, Wogen und Felsen. Ein schwarzer Ring liegt um seinen Hals, nicht ganz herum und im Nacken stärker. Er sieht mich an, mit seinen spitzen, schwarziris leuchtenden, alles durchschauenden Augen. Die hingeworfenen Krümel verschmäht er. Einen König füttert man nicht. Einen Rapport will er, eine Erzählung von mir, einen Bericht von meiner fernen Heimat. Und ich erzähle ihm von einem großen, roten Backsteinhaus, mit Efeu und wildem Wein bewachsen, auf allen vier Seiten von stets fließenden Bächen umgeben, deren einer sogar mitten durchs Haus fließt. Er schaut ungläubig drein, blinzelt, überlegt ob er bleiben und solchen Unsinn glauben soll. Er pickt etwas ab an den Krepppapierbüschen, nicht zur Nahrung, nur so als Übergangshandlung. Dann erkläre ich ihm, versuche es zumindest zu erklären, was eine Mühle ist, die mit Wasser, – wieder der ungläubige Blick-, betrieben wurde. Er glaubt mir nicht, findet aber meine Geschichte amüsant, winkt gnädig mit dem Fuß „Fortfahren!“. Und ich erzähle von den hohen Buchenbäumen, den schwarzen Tannenwäldern und dem allgegenwärtigen Grün, den vielen Hobbypferden die neuerdings auf allen Wiesen stehen und vom Reiher, der mit großen Schritten im Bach den Forellen nachstakst und sie mit seinem langen, spitzen Schnabel packt. Und auch von unseren zwei Katzen…aber das interessiert ihn nicht. „Und du?“ frage ich. Und er überlegt lange ob er das „du“ so akzeptieren will oder doch auf eine angemessenere Anrede bestehen sollte. Er neigt den Kopf etwas schief. Na ja, so von Erzähler zu Erzähler, als Künstlerkollege quasi, kann’s ja angehen. Na ja, sagt er und erzählt vom Meer, vom wilden Atlantik, der mitnichten immer blau ist, wild schreit manchmal, Futter anschwemmt, nach allem hascht was nicht schnell zurückweicht. Und vom schwarzsandigen Strand erzählt er, durchzogen mit hellen Streifen, von rundgewaschenen Felsen und den Riesenkieseln in blau und schwarz, getüpfelt mit gelb und rot, grau in grau, sinterfarbener, tausendjähriger Lava. Vom Himmel erzählt er, vom blauen Himmel, vom grauen Himmel, vom leuchtend bunten Himmel am Abend und vom rosenfarbenem am Morgen. Von den wilden Schluchten erzählt er, manchmal mit tobenden Bächen gefüllt, von bedrohlichen Gewitterschauern und den vielen Höhlen im morschen Gestein, guten Brutplätzen und von gefährlichen, wildgezackten Lavafelsen mit herrlichen Aussichtsplätzen. Von den tragenden und den zerschmetternden Winden erfahre ich, von Kakteenfeldern weit, weit mit süßen, roten Früchten und klammernden, stechenden Dornen- und von den vielen, neuen Menschensiedlungen die jetzt Teil seines Lebens sind, mit ihren Geräuschen, dem immerwährenden Licht, den seltsamen Gerüchen nach Waldbrand und Gefahr, von den sturen, rücksichtslosen Autos…; aber er merkt, dass mich das nicht mehr so interessiert. Er zupft kurz sein herrliches Gefieder zurecht, schaut mich nochmals durchdringend an als wolle er sagen:“ Du schwindelst, aber du schwindelst gut“ und erhebt sich in die Luft. Wegfliegen zu sagen wäre dafür einfach zu prosaisch. Noch zweimal sah ich ihn. Mit seiner Königin saß er im Hotelgarten auf einer der Art-deco-Lampen ganz oben so als seien sie gewolltes Teil der Gesamtinstallation. Sie beachteten mich nicht, sagten kein Wort. Na ja, es war ja eigentlich auch alles gesagt zwischen uns, eben doch nur eine Urlaubsbekanntschaft.