Geteilt

Manchmal war Georg schon etwas seltsam. Ich kannte ihn von der Schule her.
Als armer Leute Kind war er immer schon sehr sparsam und sehr fromm. Meistens jedenfalls; und er ging uns mit beidem manchmal ganz schön auf den Keks, wie wir sagten. Sein kleiner Bruder hat uns später mal erzählt, dass sie gemeinsam nur ein Bett hatten. Und da eben dieser kleine Bruder noch nicht ganz trocken war, teilte seine Mutter das Betttuch mitten durch und wusch bei Bedarf nur die nasse Hälfte davon. Das muss auf Georg bleibenden Eindruck gemacht haben. Seitdem hatte das Teilen für ihn etwas okkultes, obwohl er uns immer im Brustton der Überzeugung erklärte, das mit dem Bettuch sei sehr praktisch. In der Schule gab er Lilli immer die Hälfte seines Apfels ab obwohl er meist nur diesen einen als Schulbrot mit hatte. Da war ja auch noch gar nichts dabei, zumal er bei Lilli sowieso keine Chance hatte denn die ging, wie alle wussten, mit Karl und 11-jährige sind treu „fürs Leben“.
Auffällig für mich wurde sein besonderes Verhältnis zum Teilen erst Jahre später. Wir waren beide schon verheiratet und mit unserem Naturfreunde-Verein auf einer Städtereise in Amsterdam. Im Centrum an der Leidseplein saßen wir gemütlich unter Schirmen, hatten ein Bier oder Mangosaft vor uns stehen und sahen den Gauklern zu die trotz des kühlen Nieselregens nur leicht bekleidet ihre, eigentlich nur sehr mäßigen Künste zeigten. Darunter war auch ein sehr muskulöser, wenn auch schon nicht mehr so junger Seiltänzer. Fast unbekleidet war er. Die wichtigste Stelle war mit einem kleinen, stark gewölbten, weißen Felllappen mehr entblößt als bedeckt. Er kletterte an einem, an einem Mast baumelnden Seil hoch, drehte einige Pirouetten, machte einen Klimmzug und vollführte eine Rolle, erwiderte mit Siegerlächeln die bewundernden Blicke der Damen und ließ seine, wenn auch etwas klobigen Muskeln spielen.
Natürlich war auch Anna, Georgs Frau hin und weg bei diesem Anblick. Und als dann der Unbekleidete mit einem Becher von Tisch zu Tisch ging wollte sie natürlich auch einige Münzen hinein werfen. Und obwohl sie ja ihren Mann und seine Marotte hätte kennen müssen, war sie doch sehr überrascht als er ihren roten Regenmantel nahm, diesen mit kräftiger Hand hinten an der Naht blitzschnell in zwei Teile riss und dem Halbnackten eine Hälfte gab seine Blöße zu decken. Nun einmal abgesehen davon, dass es soo kalt ja auch wieder nicht war und sofortiges Erfrieren des Mannes nicht zu befürchten war, hatte dieser natürlich nicht mit dieser Gabe gerechnet, nahm sie aber aus einem Reflex heraus an. Vielleicht wollte er auch den ihn mit leuchtenden Augen anstrahlenden Spender nicht enttäuschen, hielt ihn für heilig oder verrückt oder beides. Jedenfalls war der halbe Regenmantel von Anna alsbald in der Menge verschwunden. Sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen und vor allen Herumsitzenden blamiert. Manche lachten, einige tuschelten und alle schauten zu uns herüber. Georg strahlte, freute sich über die Aufmerksamkeit. Fast hätte er sich verbeugt wie ein Schauspieler am Ende des Stückes. Anna schäumte vor Wut, sprang auf, lief hinüber zur Straßenbahn-Haltestelle, hochrot im Gesicht und mischte sich unauffällig unter die Wartenden. Georg konnte nicht gleich folgen, musste erst noch zahlen, sah Anna einsteigen und abfahren. Im Hotel traf er sie weinend. Sie sagte nur immer: „Mein schöner Mantel!“ und meinte eigentlich: „Du spinnst ja!“ zumal der rote Regenmantel im Kaufhaus nur einige Euro gekostet hatte. –
Ko und ich und wir alle erlebten den Auftritt mit großem Erstaunen. Ko kannte Georg ja kaum aber auch ich hatte ihn einige Jahre nicht mehr gesehen und soo auch nicht in Erinnerung. Da unsere ganze Gruppe im gleichen Hotel „Owl“ einquartiert war trafen wir die beiden abends wieder. Als ich Annas Nervenzusammenbruch sah sagte ich niemanden, dass ich den halben Mantel zerknüllt im Papierkorb an der Haltestelle gesehen hatte. „Vielleicht hat der halbe Mantel ihn vor einer schweren Erkältung bewahrt“ versuche ich zu trösten. Sie sah mich an als hätte sie gewusst wo der halbe Mantel geblieben war und sagte nur: „Ach du!“ – Nach dieser Reise kamen die beiden nicht mehr zu unserem Wanderverein. Zwei Jahre später wurden sie geschieden. – Anna treffen wir manchmal. „Nein es ist wirklich nicht wegen dem Mantel“, sagt sie, „niemand lässt sich wegen so was, wegen einem Gegenstand, oder so was scheiden, nein es war einfach völlig unverständlich für mich.“ „So geht’s mit den guten Taten“, sage ich lästernd. Sie sieht mich misstrauisch an: „Willst du ihn in Schutz nehmen? Er war wirklich unausstehlich mit seinem dauernden Gutsein!“ – Von Georg haben wir jahrelang nichts mehr gehört bis seine Todesanzeige in der Stuttgarter Zeitung stand: „Der Herr hat ihn zu sich genommen…“ Natürlich gehen wir zur Beerdigung, nehmen Anna im Auto mit. Aber auch sie wusste nichts Genaueres, nur dass er seit langem im Kloster war. Der Abt seines Klosters war daher auch der Pfarrer auf der Beerdigung. Er sprach von seinen vielen guten Taten. Besonders von elf Taten die er im Einzelnen genau schilderte. Noch zwei geteilte Mäntel erwähnte er so, mehrere geteilte Hosen und Hemden, auch Schuhe und Hüte waren dabei. „Und einige Male teilte er das Bett mit bedürftigen Damen“ flüsterte ich, handelte mir aber nur böse Blicke der Umstehenden ein. Sieben seiner Beschenkten waren zur Beerdigung gekommen und durften, in Ermangelung von Familienangehörigen als erste die Erde auf den Sarg werfen. Später erfuhren wir, dass er auch in Kloster stets irgend etwas geteilt hatte und der Bruder Schneider immer wieder seine entzweigeschnittene Kutte hatte zusammennähen müssen. Seit Monaten konnte man ihm nicht mehr Ausgang geben, denn stets gab es nicht unerhebliches Aufsehen wenn er nicht nur seine Kutte sondern auch sein Hemd und seine Hose teilte. Im letzten Winter holte er sich eine Lungenentzündung. Zweimal geteilt, also gevierteilt hatte er seine Kleider und erfror fast in seiner Zelle. Seinen Testamentswunsch, seinen Sarg und sein Grab mit jemandem zu teilen, konnte ihm nicht erfüllt werden. Erstens weil die Friedhofsordnung und mönchige Regeln das verbieten und zweitens weil sich niemand finden wollte der dazu bereit gewesen, und auch als Leiche zur Verfügung gestanden hätte. Auf den sehr schmalen, irgendwie nur halb so breiten Grabstein war seinem Wunsch gemäß ein halber, ein geteilter Engel dargestellt, dazu der Spruch „Selig sind die Halben im Geiste“. – Übrigens Anna hat uns neulich von ihrem neuen Freund Castor erzählt den sie bei ihrer Schwester kennen gelernt und der ihr zur Verabredung gleich zwei Rosensträuße mitgebracht hätte. Ein wirklich großzügiger Mensch der immer alles gleich doppelt einkauft. Und sie freue sich auch schon sehr auf ihre erwarteten Zwillinge, sagt sie.