Herr Bantele

Meiner lieben Kornelia
gewidmet zu ihrem heutigen Geburtstag und dazu alles Gute, viel Glück und immer gute Gesundheit.
Mögen alle Deine schönen Träume in Erfüllung gehen und alle Erfüllungen traumhaft schön sein.

In Liebe
Dein Roland 24. Juni 2004

Schräg gegenüber im Nachbarhaus gibt es einen Gewölbekeller der eigentlich uns gehört. Jedenfalls dachten wir das am Anfang. Stockwerkseigentum nach altwürttembergischem Recht, sei das, sagte der Notar. Wir hatten auch den Schlüssel, aber wir nutzten den Keller kaum. Unser „Mooscht“, wie die Schwaben sagen, lagerte dort in einer Korbflasche und in einem alten Holzgestell war irgendwelcher „Kruscht“, teilweise noch von wer-weiß-wann. Irgendwann mussten wir jedoch einsehen, dass im damaligen Kaufvertrag dieser Keller nicht erwähnt, und wir also kein Eigentum daran erworben hatten. Schade, denn es ist ein imposanter Raum. Besonders das Gewölbe. Es besteht aus großen Feldsteinen, manche behauen, manche teilweise behauen und manche unverändert, und die verschiedenen Größen alle sehr genau passend, meisterlich zusammengefügt zu einem Korbbogen-Gewölbe. Am Eingang eine breite, deftige Steintreppe die bis zum etwa eineinhalb Stockwerke darüber liegendem Straßenniveau hochgeht und von einer sehr dicken, in ein halbrundes Stein-Portal eingefügten Doppeltür verschlossen wird. Für diese Treppe war eigens ein massives Treppen-Haus aus behauenen Steinquadern errichtet worden das außerhalb des eigentlichen Hauses liegt und von einem separaten Ziegeldach abgedeckt war. Dieses Dach wurde später vom Nachbar durch ein angebautes Zimmer ersetzt. Aber darüber wird noch zu reden sein. Ergänzt wurde das prächtige Holztor durch schwere, schwarzgestrichene Eisenbeschläge mit extrastarken Scharnieren und einer Verschlussstange die durch ein Hängschloss gesichert war. Ein kleines Fenster ganz oben in der dicken Kellerwand gab nur schummeriges Licht. Damals, als es noch „unser“ Keller war legten wir ein Kabel von unserem Haus `rüber und leuchteten mit einer Handlampe alle Ecken aus. Hinten am Ende des Gewölbes gab es und gibt es noch immer eine Steinwand als Abschluss. „Was mag hinter dieser Wand wohl sein?“ fragten wir uns. Zu uns, also in Richtung unseres Hauses, ging diese Wand nicht und auch nicht zum Nachbarn, eher irgendwie seitlich daran vorbei. Wir beschlossen also eines Tages ein Loch in Mauer zu klopfen und nachzusehen. An diesem Märztag, draußen war’s schon dunkel, gingen wir, wohl ausgerüstet mit Pickel, Handlampe und Schaufel ans Werk. Mühsam, sehr mühsam nur ließen sich die bestens eingepassten und ziemlich großen Steine aus der Mauer ausbrechen; aber irgendwann war’s geschafft, konnten wir zwei Steine nach hinten hinaus stoßen in einen Hohlraum. Gebückt stand ich da, den Pickel in der Hand als die Steine fielen und mein erster Gedanke war „Also gibt es doch einen Hohlraum“ und „na, dann hat sich die Mühe gelohnt“. Gebückt zur Wand, so wie ich stand, konnte ich das Folgende nicht sehen, nur den Luftzug spürte ich aus der gerade entstandenen Öffnung und irgendeinen grünen Nebel oder Schimmer hinter mir, der längst verschwunden war, bis ich mich umdrehte. So kam Herr Bantele in unser Leben. Meine treusorgende Gattin, die seit über vierzig Jahren mir bei allen meinen, und seien es auch noch so absonderlichen Unternehmungen stets hilfreich zur Seite steht, stand hinter mir. Ganz bleich, erschreckt war sie. Ein grüner Schimmer sei aus dem Loch gekommen, schillernd, glitzernd, sich rasch verbreiternd verblassend und verschwindend, – weg! Natürlich dachten wir „Grubengas! Brunnengas !“ und rannten die Treppe hoch ins Freie, aber zurückgekehrt stellten wir fest: nichts roch und unsere Gesundheit kam keinen Augenblick ins Schwanken und die eigens angezündete Kerze verlöschte auch nicht. „Na ja, was soll’s“. Wir vergrößerten die Öffnung und erkundeten in den folgenden Tagen den Gang. Ziemlich lang war er, über 300 Meter, teilweise recht schmal. Zuerst stieg er leicht an, dann machte er eine kleine Wendung nach links. Mannshoch meistens, aber an manchen Stellen nur gebückt zu passieren. Spinnen gab’s hier zuhauf, große und kleine. Von was leben die eigentlich? Nirgends war eine Öffnung oder ein Lichtschimmer zu sehen. Längst waren alle Kabel zu kurz geworden und Taschenlampen anstelle der Halogenstrahler getreten. Natürlich hätten wir gerne gewusst in welche Richtung, zu welchem Nachbarhaus und überhaupt wohin der Gang geht und zu welchem Zweck er mal gebaut wurde. Wir fanden keinen Hinweis, auch nicht die, sonst in verfallenen Gängen, jedenfalls in manchen Erzählungen, stets anzutreffenden Tier- oder Menschenknochen, nicht mal Scherben und schon gar keinen vergrabenen Schatz. Leer war der Gang, wenn auch nicht sauber. Überall waren Steine aus der gewölbten Decke gebrochen und die Wände teilweise eingestürzt. Zwei kurze Gänge, einer nach links und weiter hinten einer nach rechts, gingen von unserem Gang ab. Beide nach ein paar Metern schon eingestürzt. Auch der Hauptgang war am Ende von der Decke her eingestürzt. Also gab’s kein Geheimnis, außer vielleicht den Verlauf, das heißt die Richtung des Ganges. Wir versuchten uns, anhand der Schritte und der alles-in-allem nur wenigen Windungen, den Verlauf zu merken und draußen im Gelände zu rekonstruieren. Wir fanden aber nichts was irgendwie auf den Verlauf eines unterirdischen Ganges hinweisen könnte. Klar, es war ja auch nicht ganz einfach in den Nachbarhöfen, den Gärten und Feldern anderer Leute seltsam schrittezählend herumzulaufen ohne Aufsehen zu erregen. Ein kleiner Peilsender vom Elektronik-Markt brachte leider auch keine verwertbare Spur. War er zu stark eingestellt so konnte man überall in der ganzen Umgebung sie Signale messen und war er schwächer eingestellt gab es nirgends welche. Im Stadtarchiv erzählte man uns, früher, ganz früher, so im Mittelalter etwa, hätte es mal einen langen Gang als Fluchtweg bis zum Nachbarort gegeben. Aber wo der gewesen und wie sein Verlauf, niemand wüsste das heute mehr, und aufgeschrieben hätte man das damals nicht. Erstens, damit der Fluchtweg geheim bliebe und zweitens, und das war wohl der eigentliche Grund, weil keiner schreiben konnte und ein Kloster sei auch nicht in der Nähe gewesen.- Ja, was tun? Wir gaben die Suche auf, mauerten aber den Gang nicht sogleich wieder zu. – Einige Tage später war eine milde Vollmondnacht. Wie allabendlich machten wir einen Spaziergang um unseren Hund Willi „ums Eck“ zu bringen, wie wir scherzhaft sagten. Wie stets gingen wir zum Vordereingang hinaus und rund ums Haus den kleinen Weg hoch, der zwischen unserem, schon lange nicht mehr in Betrieb befindlichem Backhaus und dem bewussten Kellereingang im Nachbarhaus verläuft, geradeaus in die Felder. Schon als wir ums Hauseck kamen, sahen wir den grünen Schimmer. DIESEN grünen Schimmer, sofort war die Situation im Gewölbekeller wieder vor unseren Augen. Unverwechselbar grün, durchscheinend, nicht jedoch durchsichtig, saß da eine Gestalt, oder irgendein Nebel in der Größe eines Menschen etwa. Was heißt hier „saß“? Von sitzen, liegen oder stehen konnte keine Rede sein. Sie „lümmelte“ da irgendwie auf dem Steinsockel an unserem Gewürzgärtchen herum, verschwand oder entfernte sich auch nicht als wir näher kamen, ließ sich auch nicht vom Grummeln unseres Willis beeindrucken, der im übrigen mit gesträubtem Rückenhaar und eingekniffenem Schwanz das „Ungewöhnliche“ ebenfalls bemerkt hatte.
Das war unsere zweite Begegnung mit Herrn Bantele und der eigentliche Anfang unserer Geschichte. Wir nennen ihn Herr Bantele obwohl er uns bei seinen Erzählungen einen anderen, seinen wirklichen Namen genannt hat; aber aus Rücksicht auf heute noch lebende Familien gleichen Namens in unserem Dorf nennen wir ihn hier „Bantele“. „Natürlich sind das noch Leute von meiner Familie“ sagte er uns dazu später einmal;- aber vorläufig sind wir ja noch ganz am Anfang unserer Begegnung. Er lümmelt da, wir staunen, sind auch mächtig erschrocken; aber nicht so sehr um uns wirklich vor ihm zu fürchten und wegzurennen oder so was. Erstaunt sind wir, „ist das wirklich möglich? ..das gibt’s doch nicht, oder?“ „Hallo“ sagt er, „ihr braucht keine Angst zu haben.“ „Sagt“ er das? Wie denn? Gehört direkt haben wir gar nichts, nur den Sinn gefühlt, irgendwie. Er lächelt, grinst spöttisch. Deutlich „sehen“ können wir das natürlich auch nicht; wir wissen nur einfach, dass es so ist, fühlen es, sind uns ganz sicher, alle beide. „Wer sind Sie?“ sagen wir, das heißt wir denken es in seine Richtung. „Bantele“ sagt er. „Und wo kommen Sie her?“ fragen wir und er beginnt zu erzählen, von früher – und man merkt ihm an, dass er lange keine Zuhörer für seine Geschichte gehabt hat und dass es ihn freut endlich wieder jemandem von seiner Zeit, seiner großen Zeit erzählen zu können. Früher kam er oft hierher, erzählt er, früher bevor das mit der Mauer war, also bevor unten im Keller der Gang zugemauert wurde. „Nein, bestimmt nicht mit Absicht“ sagt er, aber wir können den Verdacht nicht loswerden, dass doch früher irgendjemand den Gang absichtlich zugemauert haben könnte um ihn, Herr Bantele auszusperren. Jedenfalls seit der Gang ganz und gar verschlossen war, „wisst ihr, ein kleines Loch brauche ich um herüber zu kommen“, war er lange, lange ausgesperrt. „Und einen anderen Weg?“ Ja, das ginge nicht so einfach, denn nur dort wo er hinüber gekommen sei, da könne er auch wieder zurück, und er könnte noch von Glück sagen, dass er damals nicht gerade außerhalb, also hier bei uns war als die Mauer errichtet wurde, sonst hätte er womöglich nicht mehr zurück gefunden und wäre „verloren“ gegangen. Ja er sagte „verloren“ und wenn ich das jetzt so schreibe fällt mir auf, dass wir damals nicht weiter nachgefragt haben, was das denn bedeute „verloren“ zu sein; aber ich werde mir die Frage für eines der nächsten Treffen merken, denke ich. Also er erzählte von seinem Gang und der Mauer und dass er immer diesen Gang entlanggeht bis er „drüben“ ist. – Natürlich haben wir später noch mindestens dreimal den ganzen Gang abgesucht, ohne Herrn Bantele versteht sich, – um irgendeine verdächtige Stelle zu finden, bei der man den Eingang zum „drüben“ vermuten könne. Wir fanden nichts. Wie er uns sagte, käme er immer gern bei Vollmondschein. Natürlich könne er auch bei stockdunkler Nacht, „da würden ihn bestimmt noch vielmehr Leute sehen“, oder am helllichten Tag erscheinen, „ da könne er bestimmt viel mehr von der Umgebung erkennen“, aber bei Vollmond sei das Licht so gerade recht, dass er was sehen und auch selbst gesehen werden könne. – Immer wenn wir jetzt Zeit und Lust haben besuchen wir ihn in den Vollmondnächten und lauschen seinen Erzählungen. Was wir so treiben, ja wer wir sind, das interessiert ihn wohl nicht besonders, denn er fragt uns nie danach. Manche Leute, unsere Freunde und so, sehen ihn und manche nicht. Er kann das steuern, das mit dem gesehen werden, aber warum er bei manchen unsichtbar bleiben will, haben wir noch nicht herausgefunden. Unser Hund hat sich längst an ihn gewöhnt „ der riecht ja nach nichts“ denkt er sich gewiss und unsere Enten haben überhaupt keine Notiz von ihm genommen. So aus dem Schlaf gerissen und auf dem Arm sitzend war die Welt für sie auch so wohl schon unverständlich genug. – Ja, gerne käme er hierher, der schönen Erinnerungen wegen, sagt er, schaut rüber zur Hausfassade zu dem eingelassenen Stein mit der Inschrift „ Erbaut 1760“ und lächelt, erzählt gleich weiter von seiner „Dorle“ und der schönen Zeit mit ihr hier und wie sie sich kennen gelernt hätten, „ ..der dicke Eugen war auch hinter ihr her“, sagt er, und wie sie dann endlich geheiratet hätten und sieben Kinder gehabt, von denen aber nur vier groß geworden seien. – Freiwillig kommt er, „ja sicher“. Er könnte auch „DORT“ bleiben. „DORT?“ fragen wir. Nein, keine Hölle, er lacht, „die gibt’s nur hier auf der Erde, die machen sich die Menschen selbst“ und auch kein Fegefeuer oder so was. Nicht so elitär, ja er sagt „elitär“, und auch nicht so religiös abgehoben sei es dort. „Also kein Manna-Essen und Haleluja-Singen“ fragen wir. Er schaut etwas irritiert, kennt also diese Geschichte nicht, spricht nach kurzer Pause weiter – als er noch auf der Erde lebte, damals, hätte er nie gedacht, dass es dort so normal zuginge. „Gott?“ ja sicher den gibt’s natürlich dort, obwohl keiner ihn so nennt, er sei der Chef eben, aber Chef sagt auch keiner zu ihm, er ist eben „ER“. Oft sieht er ihn, meist sehr beschäftigt aber immer irgendwie freundlich, ganz normal eben. Sein „Dorle“ ist nicht mehr dort, schon lange nicht mehr. Sie wollte schon bald wieder „zurück“ also nach hier, er weiß nicht wo sie jetzt ist, schade! Auch er könnte zurückgehen wenn er wolle; aber er findet seine Erinnerungen noch zu schön und die würde er ja dann alle verlieren. Später vielleicht mal… Er erzählt von früher als alles hier noch ganz anders war. Drüben bei unserem gemeinsamen Nachbar zum Beispiel, dort wo heute seine Rosen und sein kleines Gewächshaus stehen, hätte es damals eine Quelle gegeben, „gutes Wasser“ sei es gewesen und die Quelle hätte zu unserem Haus gehört. Der Weg hinter unserm Haus sei damals geradeaus gegangen, nicht wie jetzt hinten um die Neubauten herum sondern direkt zum Pfarrgarten. Dort sei eine kleine Bücke über den Bach gegangen und außer unserem Haus und den beiden Nachbarhäusern gab es auf dieser Seite des Baches keine weiteren Häuser, nur zwei Ställe mit angebauten Scheunen. Siebzehn Häuser gab es im ganzen Dorf und das Alte Pfarrhaus, das jetzt gerade restauriert wird, und auch die Kirche, die seit zwanzig Jahren das bunte Ziegeldach hat, waren gerade im Bau und wurden später erst fertiggestellt, „nach seiner Zeit“. Und Glocken gab es auch noch nicht, denn die Gemeinde war sehr arm, – und die Kirchturmuhr kam sowieso erst viel später. Wer zwei Pferde im Stall hatte, war reich und Rinder hatten nur wenige. Ziegen gab es, und viele, viele Schafe. So erzählt er. Wie gesagt, hören können wir das nicht. Er sagt es mit Gedanken. Wem er etwas sagen will, der bekommt das schon mit. Auch selbst braucht man eine Frage nur zu denken. Wenn er sie hören will, hört er sie auch, sofern er nicht gerade beim SINNEN ist, wie so oft.
Diejenigen die ihn sehen können, halten die Nichtseher für geistig und seelisch verkrüppelt, für „zu“ und diese halten die Seher natürlich für Spinner. Alle Tiere können ihn sehen oder bemerken, glauben wir, aber den meisten ist’s nicht so wichtig. Auch alle Menschen könnten ihn sehen, wenn er es wolle, sagt er, und wenn sie es wollten. -Vor etwa drei Jahren baute der neue Besitzer über den Eingangsteil „seines“ Kellers ein Zimmer als Erweiterung der Wohnung. Also ließ er das alte Ziegeldach über der Kellertreppe einreißen, einebnen und mit einem Holzboden versehen. Herr Bantele war sehr beunruhigt bis endlich alles fertig war und abzusehen, dass der Keller nicht irgendwie renoviert, als Partykeller oder Heizraum ausgebaut würde. – Schon vor vielen Jahren hatten wir die Abschlussmauer hinten im Gewölbe wieder hochgemauert, aber, nach Rücksprache mit Herrn Bantele nicht luftdicht geschlossen. An zwei Stellen – man weiß ja nie – hatten wir zwischen den groben Fugen und von vorn kaum sichtbar, daumendicke, hinten und vorn offene Rohre mit eingebaut um für ihn jederzeit den Rückweg offen zu halten. – Manchmal gibt er uns auch Tipps, zum Beispiel was bei Hochwasser zu tun sei: „Brecht eine Lücke in das talseitige Bachufer“ schlägt er vor, „dort hinten bei den Wiesen, und lasst das Wasser ins Seitental laufen. Später könnt ihr den Damm wieder flicken. Haben wir immer so gemacht.“ So haben wir uns im Lauf der Jahre an ihn gewöhnt, an seine Ratschläge und an seine Erzählungen. – Ach ja, kommt doch mal bei uns vorbei, wenn ihr in der Gegend seid und wenn’s gerade Vollmond ist. Wir zeigen ihn Euch dann gern, so wie vielen anderen bisher auch schon. Und wir reden gemeinsam über früher und jetzt und über Gott und die Welt und Herrn Banteles Meinung dazu.

Von Roland für Kornelia
zum 24. Juni 2004.